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Ein Junge wird von einem Auto angefahren und ins Krankenhaus eingeliefert. Einer der anwesenden Ärzte sagt geschockt: »Ich kann dieses Kind nicht behandeln, das ist mein Sohn.« Doch der Vater des Patienten ist gar kein Arzt.
Wie sich dieses Rätsel lösen lässt? Einige sollten nur Sekundenbruchteile für die Lösung benötigen. Nämlich all jene, die meinen, es gäbe ein Generikum, das – obwohl grammatikalisch männlich – die weibliche und männliche Bedeutung einschließt und transportiert. Vermutlich müssen die meisten länger überlegen. Dieses bekannte Beispiel belegt – in a nutshell – die These, dass sich Sprache der gesellschaftlichen Realität anpassen muss, um verständlich zu sein, gerade wenn es um die Repräsentation von Geschlecht geht.
Die Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprache haben spätestens 1981 mit den Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs ihren Weg in den offiziellen Diskurs gefunden. Als Anfang der neunziger Jahre von der UNESCO und bundesdeutschen Behörden Vorschläge für eine geschlechtergerechtere Sprache veröffentlicht wurden, nahm die Entwicklung ihren Lauf. Selbst die Duden-Redaktion hat der Diskussion inzwischen Rechnung getragen, sie erkennt allerdings lediglich die Schreibweise mit Schrägstrich an, also beispielsweise Klempner/innen. Die öffentliche Diskussion ist jedoch Ergebnis einer viel länger andauernden feministischen Auseinandersetzung. Wenn Frauen in Männerdomänen einbrachen, stritten sie auch dafür, sprachlich sichtbar zu werden. Mit der Entstehung einer Frauenbewegung bekam das Anliegen eine politische Resonanz. Seit der Ersten Frauenbewegung hat sich innerhalb der feministischen Sprachdiskussion viel verändert. Wo gestern noch »nur« für die Benennung von Frauen in der Sprache gekämpft wurde, wird heute versucht, alle nichtrepräsentierten geschlechtlichen Identitäten sichtbar zu machen. Es sollen in der Sprache auch diejenigen Personen repräsentiert werden, die sich weder als weiblich noch als männlich definieren, ebenso wie Personen aller Sexualitäten. Über die Umsetzung in geschriebenem wie gesprochenem Text gibt es keine Einigung: Binnen-I, Schrägstrich, – x, Sternchen und/oder Unterstrich, für alle Varianten gibt es Verfechterinnen. Und selbstverständlich auch für die Variante, die mit einem generischen Maskulinum arbeitet, die also argumentieren, das grammatikalisch maskuline Wort umfasse alle Geschlechter.
Die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache, das sogenannte Gendern, wird erbittert geführt, für einige ist die Verwendung von Sternen der einzig richtige Weg, das Unbehagen am Geschlecht auszudrücken. Die Gegenseite wittert das Ende jeder abendländischen Kultur, wenn der Duden nicht das Maß der Dinge ist. Aber der Fokus auf Formalia überdeckt – auf beiden Seiten – zu häufig die interessanteren Diskussionen: Warum ist es wichtig, Gender-Diversität auszudrücken? Kann eine verallgemeinernde Aussage über Menschen so formuliert werden, dass sich jedes Individuum in ihr wiederfindet? In welchem Verhältnis steht Sprache zur Macht und in welchem zum Beschreibenden?
Herrschaft zwischen den Zeilen
Die Antworten auf die Frage, was Sprache ist und wie sich Sprache zur Wirklichkeit verhält, sind divers. Manchmal wird eine radikale Trennung angenommen, Sprache als bloßes Abbild von Wirklichkeit gesehen, als (unabhängiges) Zeichensystem gedeutet oder die gesamte Welt in Diskurse aufgelöst. Aber weder ein als abgeschlossen betrachteter Sprachbereich noch die Auflösung der materiellen Welt in Sprache scheinen den Veränderungen, denen Sprache unterliegt, entsprechen zu können, eher gibt es wohl eine Wechselwirkung von Sprache auf Wirklichkeit und vice versa. Dieses Korrespondieren ist konstitutiv für die Weltauffassung der Einzelnen und das heißt auch, dass die Sprache sich einer veränderten Gegenwart anpassen muss. Sprachgeschichtlich gibt es nicht die eine Ursprache, zu der es zurückzukehren gälte oder die erhalten werden müsste, Sprache entwickelt sich beständig weiter. Zugleich erhält die Wahrnehmung der Welt durch Sprache ihre Raster und das Selbstverständnis der Einzelnen wird durch sie geformt. Wenn die Grenzen der Sprache zu eng gefasst sind oder sie eine strukturell diskriminierende Form hat, kann das verheerende Auswirkungen haben. In der Sprache, gesprochen wie geschrieben, drücken sich gesellschaftliche Machtverhältnisse aus. Dafür seien zwei Beispiele angeführt. Zuerst Viktor Klemperers Analyse der Sprache des Nationalsozialismus, die er in seinen Tagebüchern dieser Zeit festhielt und unter dem Titel »LTI« (Lingua Tertii Imperii) 1947 publizierte, und anschließend die dystopische Vision einer rigiden Sprachwandlung in George Orwells »1984«, das Ende der vierziger Jahre verfasst wurde.
Klemperer zeigte in seinen Aufzeichnungen LTI für die Zeit des Nationalsozialismus die Wirkung, die Sprache entfalten kann, und arbeitete deren Instrumentalisierbarkeit heraus. Insgesamt analysierte er die ideologische Funktion von Sprache im NS, wie etwa die der Superlative, Abkürzungen, Imperative oder auch der bewusst initiierten Veränderung der Bedeutung von einzelnen Worten oder ganzen Phrasen und die Auswirkungen dieser Sprachwandlung auf die Menschen. Wenn Klemperer damit vor allem Zeugnis ablegte über das grausamste Kapitel der deutschen Geschichte, so verwies er doch auch auf allgemeinere Zurichtungsmechanismen von Sprache. »Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich«, diagnostizierte Klemperer entsprechend, »sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.« Wenn auch im Entstehungskontext mit wesentlich dramatischerer Konsequenz, ist diese Auffassung von Sprache im Kern auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus gültig. Denn insbesondere die vor- oder unbewussten Ordnungsschemata, derer sich Sprache bedient, formen die Wahrnehmung, ohne dass dies unbedingt bemerkt werden würde – und gerade eine solche Bewusstwerdung der Selbst- und Fremdzurichtung durch Sprache sollte das Ziel eines reflektierten Umgangs mit Sprache sein! Klemperers Zeilen verweisen allgemein darauf, dass Sprache das Denken einrichtet und entsprechend die Raster bietet, nach denen die Welt geordnet wird. Wenn diese Raster diskriminierend sind, dann setzt sich dies unbemerkt in der Weltauffassung fort. So schreibt Klemperer weiter: »Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Der Verfasser zog dazu exemplarisch die Umdeutung von »fanatisch« heran, das im NS zunehmend positiv konnotiert wurde und damit eine neue Bedeutung erhielt. Aber wenn Klemperer diese spezifische ideologische Aufladung von Sprache analysierte, verwies er damit doch zugleich auch allgemein auf Wirkungen repressiver Sprache. Denn wenn diskriminierend gesprochen wird, dann hat das seine Folgen für die Menschen. Sei das Resultat eine inferiore oder eine superiore Auffassung der eigenen Person, es liegt eben auch an der Sprache und den Möglichkeiten der Fremd- und Selbstrepräsentation, die sie bietet.
Auch George Orwell setzte sich mit dem Verhältnis von Denken und Sprache in einem ideologisch aufgeladenen Kontext auseinander. In seiner Dystopie »1984« führte er ein Gedankenspiel durch, das die Erfahrungen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges, aber mehr noch des Stalinismus und des beginnenden Kalten Kriegs verarbeitete, wie er sie aus einer angelsächsischen Perspektive wahrgenommen hatte. Die negative Zukunftsvision handelte von einem umfassenden Staatsapparat mit vollständiger Überwachung und Denkverboten. Zentral war in dieser Fiktion eine radikale Spracheinschränkung, welche die Weltsicht der Menschen nach den Maßgaben des »Big Brother« formen und dadurch die Freiheit des Denkens sukzessive aufheben sollte. Orwell nannte die Sprachumwandlung Newspeak (dt. Neusprech), das von der Partei des Großen Bruders instituiert wurde und das die politische Realität euphemistisch überschrieb. Durch Streichung von Worten sowie Einschränkung von Bedeutungen sollte das Denken der Menschen auf Parteilinie gebracht und gehalten werden. So wurden beispielsweise für das Adjektiv »gut« die Steigerungsformen »plusgut« und »doppelplusgut« eingeführt, das Gegenteil von »gut« wurde zu »ungut« – Worte wie »besser« oder »schlecht« sollte es gar nicht mehr geben; frei nach dem Motto, wofür es keine Begriffe mehr gibt, das kann auch nicht mehr gedacht werden. Dieses Beispiel für autoritäre Sprachauffassungen wird mitunter (weil missverstanden) ausgerechnet gegen feministische Positionen gewendet, wenn Gender-Vorschläge als Newspeak diffamiert werden. Dabei ist das Anliegen ja nicht wie bei Orwell, Begriffe aus der Sprache (und damit des Denkbaren) zu tilgen, sondern im Gegenteil, die einschränkenden geschlechtlichen Zuschreibungen zu erweitern, um mehr als heterosexuelle Lebensweisen denkbar zu machen.
Warum aber Orwell und Klemperer anführen, wenn es um die Frage der Sichtbarmachung geschlechtlicher Diversität in der Sprache gehen soll? Im Gegensatz zu den plakativen Vorhaltungen gegenüber feministischen Positionen à la »Sprachpolizei« ist in Orwells fiktiver Vorstellung einer durch und durch ideologisch aufbereiteten Sprache, wie auch in der realen ideologischen Veranschlagung von Sprache im Nationalsozialismus, die Klemperer beschrieb, gerade etwas anderes angezeigt. Nicht um die Frage von Künstlichkeit oder Neologismen drehte sich die Kritik primär (wobei diese für Klemperer durchaus auch eine Rolle spielten, aber in einem ganz anderen Kontext), sondern – fundamentaler – um das Verhältnis von Sprache und Weltsicht, von dem, was Wahrheit sein soll, und dem, was Lüge. Und vor allem: von der Instrumentalisierbarkeit dieser Kategorien, wenn die Sprache explizit menschenverachtend aufgeladen wird, wie den verheerenden Auswirkungen auf das Denken der Menschen. Damit ist aber in ihrer ganzen Radikalität die potentielle Wirkungskraft von Sprache angezeigt! Weder Orwell noch Klemperer sollen hier zu feministischen Sprachkritikern ernannt werden, war ihr jeweiliger Gegenstand doch etwas anderes. Im Unterschied zu gegenwärtigen feministischen Debatten um das Verhältnis von Sprache und Gewalt, in denen mitunter Gewalt in der Sprache einseitig betont wird, reagierten beide Autoren auf physische Gewalt, mit der die Sprache korrespondierte. Die Sprache ist dem perfiden System des Nationalsozialismus oder dem fiktiven von »1984« nicht vorgelagert, sondern Teil des Ganzen. Nicht die bloße Gewalt der Sprache, sondern die menschenverachtende Politik, die sich in ihr Ausdruck verschaffte, stand im Zentrum beider Texte. Beiden Beispielen unterliegt zugleich implizit die Forderung nach einem reflektierten Umgang mit Sprache und eben darum geht es in ganz anderem Kontext auch bei feministischer Sprachkritik.
Sprachkritik und Praxis
In der Sprachphilosophie gab und gibt es die unterschiedlichsten Ansätze, wie beziehungsweise ob Sprache sich auf das Handeln und Denken von Menschen auswirkt. Kulturkritische, postmoderne und materialistische Theorien bestimmen die Auseinandersetzung um feministische Sprache. Wer dem frühen Wittgenstein folgt, sieht in Sprache kein Handeln, lediglich die innere Logik eines Textes wird dann zum Bestand der Sprachkritik, da Sprache und Welt als voneinander unabhängige Systeme angesehen werden. Kulturkritische Vertreterinnen, wie Hugo von Hofmannsthal oder Bastian Sick, beklagen einen Sprachverlust, weil ihr Bezugspunkt eine vermeintlich bessere Vergangenheit ist, die romantisch überhöht wird. Jede Modernisierung und Wortschöpfung wird als Verlust von Kultur gesehen. Diese Position wird heute meist nicht in sich kohärent vertreten, denn es werden nur bestimmte Veränderungen als Kulturverlust angesehen, das kann die Rechtschreibreform sein oder eben auch die Verwendung des Binnen-I, um Frauen sprachlich zu repräsentieren. Welche Kultur hier warum verteidigt werden soll, wird nicht weiter expliziert. Die Vorstellung von Sprache als konservierbar in ihrem Status quo verkennt den ganz logischen Veränderungsprozess, den sie vollziehen muss, um sprech- und schreibbar zu bleiben. Gesellschaftliche Veränderungen müssen ebenso ausdrückbar sein, wie es Begriffe für neue Erfindungen und Entdeckungen geben muss. In der Sprache der Romantik gab es die Begriffe Astronautinnen oder Patchworkfamilie nicht, weil das Bezeichnete eben im Leben nicht vorkam.
Postmoderne Theorien, denen in der aktuellen queerfeministischen Diskussion oft gefolgt wird, überhöhen hingegen Sprache als Instrument, Wirklichkeit zu gestalten. Ohne tiefere Begründung heißt es zum Beispiel in der viel zitierten Broschüre »Was tun?« der AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität Berlin: »Sprache ist immer eine konkrete Handlung. Über Sprache bzw. Sprachhandlungen wird Wirklichkeit geschaffen.« Nicht nur Sprache und Handeln sind hier eins, sondern die Verwendung von Begriffen wird – ohne Ambivalenzen – als gesellschaftsverändernd interpretiert. Das Individuum hat scheinbar unendliche Möglichkeiten durch bloßes Benennen den Gegenstand der Kritik zu verändern. Eine recht naive Halluzination. So einfach kann es nicht sein und ist es nicht. Wie sollten sich innerhalb eines solchen Verständnisses denn gesellschaftliche Prozesse erklären lassen? Wenn ich den Lehnherren nur nicht mehr so nenne, verschwindet er mitsamt seiner Macht? Auch eine möglichst inklusive Benennung ändert noch nichts an der gesellschaftlichen Verfasstheit. Die Verwendung der Form Bürgermeister*in führt nicht zu einer realen Präsenz von transidenten Personen auf einem derartigen Posten.
Von gesellschaftlichen Strukturen kann sich in der postmodernen, wie auch schon in der kulturkritischen Sprachkritik kein Begriff gemacht werden. Anders in einer materialistischen Sprachkritik, die eine gute Grundlage auch für feministische Diskussionen ist.
Materialistische Sprachkritik ist eine Ideologiekritik, die nach der konstitutiven Begrenztheit von Sprache innerhalb ihres linguistischen und gesellschaftlichen Systems fragt. Sprache wird ins Verhältnis zu Welt und Denken gesetzt, sie ist also nicht unabhängig von Gesellschaft, sondern ihr ist ein historischer und gesellschaftlicher Kontext eingewebt. Wie könnte es anders sein: Sprache und Welt stehen in einem dialektischen Verhältnis. Obwohl Sprache als scheinbar natürlich wahrgenommen wird, ist sie ein Produkt historischer Erfahrung und gesellschaftlicher Praxis. Der materialistische Ansatz führt Sprache auf gesellschaftliche Praxis zurück, von der sie bestimmt wird und mit der sie korrespondiert. Dieser Zugang der Kritischen Theorie zur Sprache lässt sich für feministische Sprachkritik nutzbar machen. Es wird möglich, Begriffe zu hinterfragen, ohne den gesellschaftlichen Bezug zu vernachlässigen. Sowohl Enthistorisierung von Sprache wie auch ihre absolute Gleichsetzung mit Handeln, wie sie im postmodernen Feminismus vorkommt, können kritisiert werden.
Vielleicht ist eine letzte Einigung über die Relation von Sprache und Wirklichkeit nicht vonnöten, um anzuerkennen, dass Texte Vorstellungen von Gesellschaft transportieren. Auch wenn erbittert darüber gestritten wird, wie sich das Verhältnis zwischen Gegenstand und sprachlicher Abbildung gestaltet, letztlich ist die Entscheidung, wer in einem Text zu Wort kommt, über wen geredet wird, welche geschlechtlichen Zuschreibungen betont oder ausgelassen werden, eine bewusste. Ob oder wie geschlechtersensible Sprache verwendet wird, verändert die Bilder im Kopf der Lesenden sowohl zu dem Geschriebenen als auch über die Autorinnen. Die Verwendung von Sternchen oder Unterstrich sagt etwas über die politische Einordnung der Schreibenden aus, gleichzeitig kann es aber auch eine berechtigte Position sein, den Fokus nicht auf Geschlecht legen zu wollen.
Sprache kann Ausdruck von Macht sein, sie will etwas fassen, sie ist jedoch andererseits auch nur das: Repräsentation. Von Gewalt zu sprechen, ist nicht dasselbe, wie diese auszuüben, und auch keine Reproduktion von Gewalt. Einige Verfechterinnen von geschlechtergerechter Sprache scheinen so in den Diskursen verfangen, dass sie diese nicht mehr als das Reden über etwas wahrnehmen, sondern als das Etwas selbst. Wer über Vergewaltigungen schreibt, vergewaltigt damit nicht. Wenn dieser Unterschied nicht mehr gesehen wird, wird körperliche Gewalt verharmlost und betroffenen Menschen wird die Möglichkeit genommen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Debatte nimmt bisweilen absurde Züge an. In den USA wird beispielsweise seit einiger Zeit diskutiert, wie innerhalb des Jura-Studiums (sexualisierte) Gewalt thematisiert werden soll. Einige Studentinnen fordern, dass Vergewaltigung als Straftatbestand nicht mehr zur Pflichtlehre gehören soll, und setzen teilweise das Sprechen über Vergewaltigungen mit realer sexualisierter Gewalt gleich, wie Professorin Jeannie Suk von der Harvard Law School im New Yorker ausführte. Einzelne gehen so weit, zu fordern, dass in der Lehre auf den Begriff violence verzichtet werden soll, da dieser traumatisierend wirken könne. Ähnliche Beispiele gibt es auch an deutschen Unis – und in der linken Szene.
Fälschlicherweise wird sich in solchen Diskussionen auf Judith Butler bezogen, die zwar dem linguistic turn zuzuordnen ist, aber in ihrem Buch »Hass spricht« ganz konkret einem Redeverbot widerspricht und zwischen Benennung und Tat unterscheidet. Butler differenziert zwischen hate speech und sogenannten verletzenden Worten, nur erstere, also eine Sprache, die Angst auslöst und andere einschränken soll, ist auch gewaltvoll. Aber auch abgesehen von Auswüchsen wie denen in Harvard wird der Gegenstand der Auseinandersetzung oft unnötig vom Inhalt zur Form verschoben.
SchrägUnterBinnenSternchen
Die Wahl der Sprache ist verbunden mit der Frage nach den Adressatinnen, dem Grund des Textes und der Form der Veröffentlichung. Aber auch politische Haltung wird durch Stil und Wortwahl transportiert. Sprache ist nicht nur Kommunikations-, sondern auch Distinktionsmittel.
Die Sprache des Adels war eine andere als die Sprache der Feldarbeiterin, in der katholischen Kirche wurde die Sonntagspredigt auf Latein gehalten, damit auch ja kein dahergelaufener Glaubenspöbel ein Wort verstand. Er verstand die Botschaft trotzdem: Dort ist die Macht, ich bin auf der anderen Seite.
Lange Zeit wurde in der westdeutschen Linken Deutschland »brd« buchstabiert. Egal, worum es in dem Text ging, mit den Kleinbuchstaben wurde Verachtung gegen den Staat ausgedrückt. Aktuell wählen selbsternannte Gesellschaftskritiker mit Vorliebe einen antiquierten Sprachstil, vermutlich wollen sie auf diese Weise die Verachtung gegenüber anderen Linken zum Ausdruck bringen. Während diese Herren und Damen nicht müde werden, Feministinnen vorzuwerfen, ihre Unterstrich-Schreibweise sei unverständlich, weisen sie den Vorwurf der Unverständlichkeit an ihren eigenen Texten als Antiintellektualismus von sich.
Wie kann Sprache so gestaltet werden, dass sich alle – von Adressaten über Adressat_innen bis Adressatinnen – angesprochen fühlen? In diesem Text geht es nicht darum, eine einfache Antwort zu geben, die eine Zeichenfolge favorisiert. »Puh!«, hören wir die Leserinnen stöhnen. Jetzt lese ich mich durch 20 000 Zeichen und finde keine Antwort? Naja. Die Antwort ist: Der Wunsch nach Inklusion Aller bei gleichzeitiger Nennung möglicher Unterschiede ist nicht erfüllbar. Eine allgemeine Bezeichnung ist gerade dafür da, alle, die mit ihr gemeint sind, zu umfassen, unabhängig ihrer individuellen Differenzen. In vielen Fällen spielt dabei weder Geschlecht noch Sexualität oder Hautfarbe eine Rolle. Von »Frauen« zu schreiben, kann politisch sinnvoll sein, um beispielsweise das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis zu beschreiben oder um Gewalt gegen Frauen benennen zu können. Dass es auch andere Gewalt gibt, zum Beispiel gegen Schwule, die dabei nicht genannt wird, ist unbenommen. Aber eben auch nicht notwendig zu erwähnen, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. Wer meint, mit der simplen Verwendung des Wortes Frau werde Geschlecht festgeschrieben, nimmt sich die Möglichkeit feministischer Gesellschaftsanalyse, weil die manifeste Geschlechterhierarchie nicht benannt werden kann. Auch alle, die das Männliche als das Allgemeine setzen, also das generische Maskulinum verwenden, können mit ihrem Vokabular und dem dahinterstehenden Denken Gesellschaft nicht angemessen fassen.
Diejenigen, die für Sternchen oder kreativen Unterstrich als Generikum plädieren, wähnen sich auf der Seite größtmöglicher Inklusion, doch nicht jede bevorzugt es, als Frau* angesprochen zu werden. Zudem wird in Kauf genommen, dass alle, die von der sehr internen Debatte um Zeichen noch nie gehört haben, nicht verstehen, was damit gemeint ist.
Wer heute von »Menschen« oder »Personen« schreibt, will ja genau etwas über alle sagen (auch wenn historisch zu häufig bei dem Wort Mensch nur Mann im Sinn war). Und nicht über individuelle Eigenheiten. Wenn das Wort Mensch mit Anführungszeichen versehen wird oder jeder Gruppe ihre mögliche Sexualität in Abkürzung zugesetzt wird, wird der allgemeinen Form jede Kraft genommen und die Begriffe werden entmenschlicht. Es braucht keinen Zusatz vor Menschen, denn dabei ist die Rede von allen, und wo dies nicht gilt, muss politisch interveniert werden. Andererseits muss ein Generikum bewusst gewählt werden. Sätze, die mit »alle Frauen wollen« beginnen, können kaum richtige Aussagen treffen, egal ob sie auf » … eine starke Schulter« oder » … finanzielle Unabhängigkeit« enden. Auch wenn der eine richtige Weg nicht existiert, gibt es eben doch einen Haufen falscher Fährten.
Dieser Text plädiert dafür, feministische Positionen zu vertreten und sprachlich genau zu argumentieren. Die Hauptkritik sollte dennoch nicht auf die Verwendung von Generikum, Unterstrich oder Binnen-I gerichtet werden, sondern auf Argumente. Die Mühe der Widerlegung von antifeministischen Stereotypen, von sexistischen Beispielen oder anderer Dummheit sollte sich gemacht werden. Andernfalls rühren alle in ihrem eigenen Brei, tragen Eulen nach Athen und predigen zu den Konvertierten. Obwohl es nervig sein kann, einen Text zu lesen, der durchgängig das Männliche als das Allgemeine setzt, sagt diese Kritik eben noch nichts über das Thema des Geschriebenen aus. Genauso wenig bedeutet die Verwendung von Unterstrichen oder Sternchen in einem Text, dass dieser emanzipatorische Ideen vertritt. Ein Wohlfühl-*, an dem die politische Gesinnung festgemacht wird, braucht es eben auch nicht. Eine scharfe Kritik an vertretenen Positionen ist wünschenswerter als an der Form des Textes. Das gilt für alle Beteiligten, die eine – meist antifeministische – Fraktion kann nicht mehr, als sich über Neologismen lustig zu machen, die andere – meist queere – echauffiert sich über das maskuline Generikum, als würde damit Gewalt verherrlicht. Mit keiner der Haltungen lässt sich gut diskutieren. So banal, wie das klingen mag: ohne Respekt vor dem Gegenüber geht es nicht.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Sprache bei der Kritik keine Rolle spielt. Es wurde – hoffentlich – gezeigt, dass Sprache sehr wohl mehr als einen Inhalt transportiert, dass sie genutzt werden kann, um gesellschaftliche Veränderungen anzuerkennen oder eben zu negieren. Wer nur von Ärzten und Krankenschwestern schreibt, zeichnet ein gesellschaftliches Bild aus dem vergangenen Jahrtausend. Wer allerdings von Kanzler_in Merkel schreibt, illusioniert eine geschlechtliche Uneindeutigkeit, die unter dem Mantel der Inklusion individuelle Eindeutigkeiten verschwinden lässt. Noch absurder wird es, wenn die Feinde jeder Emanzipation mit einem Unterstrich aufgewertet werden. Auf einem Transparent gegen Legida war Mitte 2015 von Macker*innen zu lesen, unter Nazis gibt es sicherlich Nationalsozialistinnen, transidente Menschen werden sich jedoch kaum in Kameradschaften finden lassen.
Die Abwägung von Verständlichkeit, Adressatinnen, Kontext und Thema bleibt eine Herausforderung für feministisches Schreiben, besser gesagt: für jedes Schreiben.
Ein Flyer für eine queere Party wird mit Unterstrichen oder Sternchen das gewünschte Publikum erreichen. Einen Artikel bei einer Zeitung unterzubringen, die schon jedes Binnen-I herausredigiert, verlangt nach anderen Wegen. Eine recht elegante Lösung kann das generische Femininum bieten: Der Kontext klärt darüber auf, dass offenbar nicht ausschließlich von Frauen die Rede ist, das Überlegen darüber kann bei Leserinnen einen kurzen Denkanstoß zum Geschlechterverhältnis geben, Texte werden nicht schwieriger zu lesen und entsprechen der Rechtschreibung. Menschen, die sich weder einem weiblichen noch einem männlichen Geschlecht zuordnen, sind in diesem Generikum allerdings nicht explizit sichtbar gemacht. Im Gegenzug sollte, wo möglich, im Singular und in den Beispielen Transidentität sichtbar gemacht werden. Vielleicht kann die Duden-Variante sogar eine Alternative anbieten, der Schrägstrich ist am Ende doch auch nur ein sich aufrichtender Unterstrich. Viel wichtiger als diese Markierung bleibt jedoch eine inhaltliche Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, eine Abkehr von klischeebehafteten Beispielen und eine feministische Position, die sich aus dem gesamten Text herauslesen lässt.
Hat sich hoffentlich gelohnt, bis zum Ende dabei zu bleiben. Ach so, der Arzt ist eine Ärztin und die Mutter.
AFBL Antifaschistischer Frauenblock Leipzig Jungle World Januar 2016
WARUM WIR VON EINER üBERWACHUNGSGESELLSCHAFT SPRECHEN
Redebeitrag der Demovorbereitungs-Kooperation von AFBL (Antifaschistischer Frauenblock Leipzig) und BgR (Bündnis gegen Rechts)
Die heutige Demonstration führt an einer Vielzahl von Orten vorbei, die beispielhaft sind für ein Phänomen, welches sich wohl am besten im Begriff der Überwachungsgesellschaft wiederfindet. Drei Minuten von hier befindet sich der Leipziger Hauptbahnhof, dessen Management die Bilder von über hundert privaten Kameras dem BGS bei seiner Jagd auf MigrantInnen zur Verfügung stellt. Private wie kommunale Kameras werden uns auf dem gesamten Weg durch die City begleiten. Die Zweckentfremdung des öffentlichen Raums zur privatisierten Konsummeile wie hier in der Innenstadt zeigte sich am Versuch des Ordnungsamtes, die heutige Demonstration in die Peripherie abzudrängen. Schlußendlich wird die Kamera am Denkmal des Antisemiten und ehemaligen Leipziger Bürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler wunderschöne Aufnahmen dieser Demonstration liefern. Wir alle sind in den letzten Jahren ZeugInnen eines Prozesses geworden, der sich anschickt, die letzten Rückstände gesellschaftlich wirksamen Widerstandes unmöglich zu machen. Diesen Prozess hat die Linke mit ihrer alleinigen Politik gegen den Überwachungsstaat verschlafen. Sie hat nicht erkannt, daß die Träume des Überwachungsstaates längst durch die Überwachungsgesellschaft verwirklicht werden. Widerstand gegen einzelne Ausformungen dieses komplexen Phänomens wird immer erfolglos bleiben, wenn er nicht in eine gesamtgesellschaftliche Analyse eingebettet ist. Greifen nicht alle Kampagnen gegen Repression zu kurz, wenn durch die Normierungseffekte der neuen Sicherheitstechniken wie Kameras oder Chipkartensysteme Widerstand unmöglich gemacht werden soll? Was nützt das alleinige Feindbild Polizei, wenn es längst private Sicherheitsdienste sind, die Bahnhöfe und Einkaufspassagen sicher und sauber halten und jeder KonsumentInnengruppe ihren Platz zuweisen? Natürlich gönnt die Security dem Penner sein Bier am Imbiß, solange er den Teenies ihr Shoppen bei H&M nicht versaut oder den gestressten Geschäftsleuten ihr zweites Frühstück bei Mövenpick. Schließlich muß alles innerhalb der kapitalistischen Logik verwertet werden. Nichts bietet sich also mehr an als der gläserne Mensch, dessen Wünsche, Sorgen und Interessen bekannt sind und der auf diese Art und Weise optimal mit Produkten versorgt werden kann. Die Interessen von KonsumentInnen und Ökonomie treffen sich da, wo KundInnenkarten bequemes und billiges Einkaufen versprechen. Die Industrie wird glücklicher, braucht sie sich doch kaum noch Sorgen über das eventuelle Scheitern eines Produktes am Markt zu machen und die KonsumentInnen bekommen endlich das, was sie immer schon haben wollten. Närrinnen und Narren sind die, welche glauben, daß ihre Daten auch gegen sie
verwandt werden könnten. Schließlich wird Repression, Kontrolle und Überwachung nur die treffen, die etwas zu verbergen haben. So zumindest die landläufige Meinung der Bevölkerung. Deren wahnhaftes Interesse an Sicherheit verstärkt zum einen die Ausgrenzung von konstruierten Randgruppen, zum anderem macht das weitverbreitete Blockwartsdenken auch vor der Haustür des Nachbarn oder der Nachbarin nicht halt. Mit der Benennung eines solchen komplexen Geflechts von Verantwortlichkeiten wollen wir aber nicht sagen, daß Widerstand unmöglich wird. Zwar gibt es keinen Hauptschuldigen, der sich für die gegenwärtige Entwicklung ausmachen läßt, doch braucht es einen solchen auch überhaupt nicht, um mit politischem Widerstand zu beginnen. Die lokalisierten Orte von Macht und Herrschaft bieten genügend Zielfläche, um dagegen anzugehen. Sei es der Widerstand gegen die Residenzpflicht von MigrantInnen oder eine Antirepressionskampagne, die den Staat nicht verklärt. Seien es Aktionen gegen Bürgerinitiativen für mehr Sicherheit und Ordnung oder gegen die Privatisierung öffentlicher Räume. Wenn wir uns die gesellschaftlichen Verhältnisse bewußt machen und nicht nur gegen einzelne Phänomene vorgehen, gibt es keinen Grund, mit dem Widerstand zu warten.
Organisiert den Widerstand! Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte! Für eine herrschaftsfreie, emanzipatorische Gesellschaft! Es liegt an uns, zu zeigen, daß die Politik von Überwachungswahn und Sicherheitshysterie angreifbar ist!
KATEGORIE ASOZIAL
Hintergrundtext zur Ausstellung "Ihr seid nicht vergessen!"
2007
In dem KZ Uckermark waren vor allem Mädchen und junge Frauen inhaftiert, die nicht dem Bild der deutschen „Volksgemeinschaft“ entsprachen.
Die „Volksgemeinschaft“ war eine der tragenden Säulen nationalsozialistischer Ideologie. Sie sollte möglichst homogen sein – wer nicht in das Bild passte, wurde von der deutschen Bevölkerung und staatlichen Institutionen scharf beobachtet, verfolgt, separiert, ermordet. Neben Juden und Jüdinnen, die von vornherein aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen waren, galten auch Menschen mit als von der Norm abweichendem Verhalten kategorisierten, v.a. in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Sexualität, als nicht dazugehörig. Sie wurden als „minderwertig“ und „gemeinschaftsunfähig“ klassifiziert und als „Asoziale“ bezeichnet.
Der Vielfalt der unangepassten Verhaltensweisen entsprechend ist der Begriff „asozial“ äußerst vage, in ihm wurde alles, was störte, zusammengefasst. Versuche von Definitionen finden sich in verschiedenen Erlassen von Himmler und dem Entwurf zum „Gemeinschaftsfremdengesetz“. Der Verfasser eines Handbuches über Erbkrankheiten forderte gar, die Definition solle dem „Volksempfinden“ überlassen werden.
Als Frühsymptome bei Jugendlichen galten z.B. Rauchen, Faulheit, Eigensinn, Trotz, Zerstörungslust, Schulschwänzen.(1) Schon in der Weimarer Republik gab es Ansätze zur Bekämpfung der „Asozialenfrage“, eine rechtliche Absicherung sollte durch das „Bewahrungsgesetz“ gewährleistet werden, das von vielen Fürsorge- und SozialpolitikerInnnen seit 1928 verstärkt gefordert wurde. Nach der Machtübernahme der Nazis wurden das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ erlassen, im Mai 1939 folgte ein Erlass, in dessen Folge eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität“ innerhalb des Reichskriminalpolizeiamtes eingerichtet wurde. Ihre Aufgabe war „die kriminalpolizeiliche Überwachung von Kindern und Jugendlichen, die erblich kriminell belastet scheinen“(2), sowie die praktische Bekämpfung. Damit wurde in der Jugendpolitik nachgeholt, was für Erwachsene schon seit 1938 Praxis war. In diesem Jahr bekam die „Asozialenverfolgung“ eine neue Qualität, es wurden im Zuge der „Aktion Arbeitsscheu“ Menschen inhaftiert, denen man vorwarf, ungenügend zu arbeiten oder unentschuldigt zu fehlen. Zuspätkommen oder Krankheit konnte so Deportation in ein Arbeitslager und damit oft Tod bedeuten.
Unter „Jugendschutz“ gestellt
Der Erlass über die Bekämpfung der Jugendkriminalität beinhaltete explizit auch Anwendung „polizeilicher Zwangsmittel“(3), was u.a. Deportation in KZs bedeutete. 1940 wurde das „Jugendschutzlager“ Moringen eingerichtet, wobei hier nicht die Inhaftierten geschützt, sondern die Volksgemeinschaft vor dem Einfluss „volksschädigender Elemente“ bewahrt und darüber hinaus abgeschreckt werden sollte. Die Lager erfüllten eine doppelte Funktion: Während die Jugendbehörden eine Möglichkeit suchten, ihrer Meinung nach „unheilbare“ Fürsorgezöglinge aus den überfüllten „Bewahrungsanstalten“ auszugliedern, legte Himmler, der seit 1936 auch die Befehlsgewalt über die Polizei innehatte, den Schwerpunkt auf die Ausnutzung der Arbeitskraft der jungen Menschen. Die Jugendschutzlager war ein Reservoir an billigen ArbeiterInnen, die in den ersten Kriegsjahren gerade in der Rüstungsindustrie fehlten.
Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark
In Moringen waren v.a. männliche Jugendliche inhaftiert, es gab aber auch zwei Blöcke mit Mädchen, die wie Strafgefangene behandelt wurden. 1941 wurde beschlossen, ein gesondertes Mädchenlager zu errichten, ein Jahr später wurde der Plan umgesetzt. In unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück mussten Häftlinge Baracken bauen. In den Jahren ‘42 bis ‘45 waren insgesamt ca. 1200 weibliche Jugendliche inhaftiert. Vorgesehen war das Lager für Mädchen und Frauen im Alter zwischen 16 und 19, wobei die Altersgrenze in „begründeten Fällen“ unterschritten werden durfte, so dass auch bedeutend jüngere Mädchen eingewiesen wurden.
Einweisungsgründe waren bei den Mädchen neben der angeblichen Aussichtslosigkeit fürsorgerischer Maßnahmen wirkliche oder unterstellte Beteiligung am Widerstand, Verweigerung des BDM-Dienstes, „Arbeitsvertragsbrüche“, und insbesondere „sexuelle Verwahrlosung“. In seiner Schwammigkeit dem Begriff „asozial“ ähnlich, wurde unter dieser Bezeichnung alles subsumiert, was dem nationalsozialistischen Bild eines „gesunden, sittlichen“ weiblichen Privatlebens widersprach: eine Beziehung zu „Fremdvölkischen“, „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“, wobei es reichte, trotz nächtlicher Ausgangssperre auf der Straße angetroffen zu werden oder sich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt zu haben, um unter Verdacht zu fallen. Die Kategorie „sexuelle Verwahrlosung“ wurde ausschließlich bei Mädchen und Frauen angewandt und war gleichzeitig der häufigste Einweisungsgrund, wohingegen sie bei Jungs gar nicht zum Tragen kam. Die Leiterin
Toberentz erklärte in einem Bericht über das KZ Uckermark: „Ursache und Art des Entgleisens sind immer wieder entscheidend geprägt durch die Triebhaftigkeit, die in Verbindung mit Hemmungslosigkeit und Minderbegabung zur sexuellen Verwahrlosung führt.“(4) Wie erwähnt kooperierten bei der Einweisung die Fürsorge- und Sozialbehörden eng mit der Kriminalpolizei und der GESTAPO. Die Einweisungsgewalt lag bei der Polizei, sie reagierte auf Anzeigen aus der Bevölkerung, von Eltern und LehrerInnen, sowie auf die Vorschläge der Fürsorgeheime und Sozialbehörden. Nach der Inhaftierung wurden die betroffenen Mädchen und Frauen zunächst zur „Sichtung“ in das KZ Ravensbrück gebracht, eine demütigende Prozedur, die Duschen, Kahlschur und „Untersuchung“ durch SS-ÄrztInnen beinhaltete, um dann ins KZ Uckermark überstellt zu werden. Neben der Leiterin Lotte Toberentz, eine Kriminalrätin der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP), und ihrer Stellvertreterin Johanna Braach führten ca. 80 weitere angebliche Erzieherinnen die Aufsicht im KZ, jedem Block waren zwei SS-Kräfte der WKP zur „Bewachung und Anleitung der Häftlingsarbeit“ (5) zugeteilt. Jeweils achtzehn Mädchen und jungen Frauen lebten in einer Baracke, wobei es verschiedene „Blöcke“ gab, in die sie je nach „Schwere des Falls“ eingeteilt wurden. So ergab sich ein „Drei-Stufen-System“: Vom sogenannten Beobachtungsblock für die gerade Eingelieferten kamen die Mädchen nach ca. einem halben Jahr in den Block für „Erziehungsfähige“ oder den für „Triebhafte, ewige Querulantinnen und Uneinsichtige“. Zusätzlich gab es einen „Sonderblock“ für slowenische Mädchen/Frauen, die im Verdacht standen, PartisanInnen unterstützt zu haben, und somit politische Gefangene waren. Für die Beurteilung innerhalb des „Drei-Stufen-Systems“ waren „kriminalbiologische“ Gesichtspunkte ausschlaggebend, die von Robert Ritter, Leiter des Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei, erstellt wurden. In der Bekämpfung der „Asozialen“ hatte die Kriminalbiologie im Laufe der dreißiger Jahre eine immer wichtigere Position eingenommen. Sie beruht auf der Prämisse, dass kriminelle und asoziale Verhaltensweisen erblich bedingt seien; Ziel war es, „die Persönlichkeit des Rechtsbrechers und die Ursachen seines dissozialen Handelns zu erforschen.“(6) Das Mädchen-KZ Uckermark galt Ritter als Experimentier- und Forschungsfeld für das „Wachsen und Werden von Verbrecherfamilien“. Dementsprechend hatte in der Beurteilung der Häftlinge das Leben der Eltern einen großen Einfluss: z.B. Alkoholismus eines Elternteils, Unehelichkeit oder Abhängigkeit von Sozialhilfe wirkten sich negativ aus. Der Alltag der Häftlinge war geprägt von Schikanen und Zwangsarbeit. Es gab elf Arbeitskommandos mit unterschiedlich schwerer Arbeit, u.a. bei Siemens und in der Land- und
Forstwirtschaft; im Lager mussten sie z.B. kochen, Puppen für SS-Angehörige nähen oder Kleidung ausbessern. Die Lagerordnung zielte auf totale Isolation der Häftlinge ab: Briefe wurden zumindest zensiert, wenn sie denn empfangen oder verschickt werden durften, und nach innen versuchte man eine Solidarität unter den Häftlingen durch ein 24-stündiges Redeverbot zu verhindern. Ein diesbezüglicher Regelbruch zog schwere Strafen nach sich, z.B. Ohrfeigen, Prügel, Strafstehen, Verwarnungen, Entziehen von Vergünstigungen und Essen, Arrest. Meist wurden auch die arbeitsfreien Sonntage mit Strafen für Verstöße gefüllt. Nach frühestens anderthalb Jahren oder mit Erreichen der Altersgrenze wurde eine mögliche Entlassung geprüft, auch hierbei basierte die Entscheidung auf den kriminalbiologischen Beurteilungen. Die Frauen aus dem Block für „Erziehbare“ mussten nach ihrer Entlassung in der Land-, Forst- oder Hauswirtschaft oder der Rüstungsindustrie arbeiten, die anderen verblieben im nationalsozialistischen Lagersystem; sie wurden ins KZ Ravensbrück oder in sogenannte Pflege- und Heilanstalten überwiesen.
Das Vernichtungslager Uckermark
Ab Ende ‘44 war in Ravensbrück wie in anderen KZs die Überfüllung dermaßen groß, dass man nach Möglichkeiten suchte, die Vernichtungsmaschinerie zu effektivieren. Weil das Lager Uckermark nah bei Ravensbrück war, dort die Baracken schon vorhanden waren und das SS- Überwachungssystem installiert, bot es sich an, es auch als Vernichtungslager zu nutzen. Der dafür vorgesehene Teil des „Jugendschutzlagers“ wurde durch einen Stacheldraht abgetrennt; in diesem Bereich wurden einige Baracken zu Gaskammern umgebaut. In dem Mädchenlager blieben von den Inhaftierten vierzig bis sechzig Mädchen, einige wenige wurden entlassen, der überwiegende Teil wurde nach Ravensbrück oder in andere Lager verlegt. Die Arbeitsunfähigen aus Ravensbrück, sowie die Überlebenden des Warschauer Aufstands wurden selektiert und in das neu errichtete Vernichtungslager gebracht. Einige Frauen aus Ravensbrück meldeten sich freiwillig, weil sie dem von den Aufseherinnen lancierten Gerücht glaubten, dass im ehemaligen Jugendlager bessere Arbeitsbedingungen herrschten. In Wirklichkeit wurden die Frauen dort systematisch umgebracht, zum einen durch die weiter verschlechterten „Lebensbedingungen“, z.B.: eine Unterkunftsbaracke für 400 Frauen, stundenlanges Appellstehen, Herabsetzung der Lebensmittelrationen und den Gefangenen wurden Mäntel und Decken weggenommen. Gleichzeitig wurden Frauen gezielt in Gaskammern und mobilen Gaswagen, durch Erschießungen und Giftinjektionen getötet. Die genaue Zahl der Ermordeten ist nicht bekannt, Schätzungen zufolge wurden zwischen
Januar und April 1945 ca. 5000 bis 6000 Frauen ermordet. Zur Tarnung wurde in die Akten der Frauen, die ermordet werden sollten, der Vermerk „Schonungslager Mittwerda“ geschrieben. Am 14. April wurden die letzten noch lebenden Häftlinge überstürzt ins Hauptlager zurückverlegt. Bis zur endgültigen Befreiung fand noch ein weiterer letzter Funktionswandel statt. Das ehemalige „Jugendschutzlager“ diente nun als Zwischenstation u.a. für die Überlebenden des Transports aus dem geräumten Konzentrationslager Mittelbau-Dora, der sich mit etwa 4000 männlichen Häftlingen in Bewegung gesetzt hatte. Ende April befreite die Rote Armee die Lager Uckermark und Ravensbrück. Das Gelände wurde nach Kriegsende zum militärischen Sperrgebiet und z.T. durch die Rote Armee überbaut. 1993 zogen die GUS-Truppen ab, 1997 fanden drei Workcamps statt, um die Fundamente freizulegen und mehr über das Lager herauszufinden. Die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V. bemüht sich seit Jahren, die Geschichte des Mädchen-KZs bekannter zu machen und die Zerstörung der Spuren und Fundamente aufzuhalten. So konnten durch Proteste die Eröffnung eines bereits gebauten Supermarkts verhindert und der Bau einer Umgehungsstraße verschoben werden. Inzwischen hat die für das Gelände zuständige Stadt Fürstenberg die Bereitschaft zu einer so weit es geht angemessenen Gestaltung des Areals signalisiert und schrieb einen Internationalen Landschaftsplanerischen Ideenwettbewerb für eine Gesamtkonzeption aus, wobei die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis nicht einbezogen wurde. Eine Auflage des Wettwerbs war, eine möglichst kostengünstige Idee zu entwickeln. Doch auch eine Umsetzung der „Billigpläne“ ist mit der Begründung mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten ausgesetzt worden. Eine Gedenkstätte, die auch ausdrücklich auf das KZ Uckermark und seine Hintergründe eingeht, wird es nicht geben.
Nach ‘45: Aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt
Auch nach 1945 setzte sich der Leidensweg für die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ verfolgten Menschen oftmals fort. Das harte Vorgehen gegen „Asoziale“, die der NS-Ideologie folgend mit „Kriminellen“ gleichgesetzt wurden, wurde in der Nachkriegszeit als positiv gewertet, Zwangsarbeit, KZ, Misshandlungen dieser Menschen galt nicht als NS-Unrecht. Im Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1953, das Entschädigung im Sinne von Schadensausgleich gar nicht vorsah, wurde anerkannt, dass „Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung , aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgt worden sind, Unrecht geschehen
ist.“(7) Mit dieser Formulierung wird die Sicht der TäterInnen reproduziert, nicht die Verfolgung und Verschleppung ins KZ, sondern die Motivation der Nazis ist der Maßstab für die Eingriffe bzw. Zerstörung der Menschenwürde. Dadurch bleiben viele Gruppen und Einzelpersonen stigmatisiert und als Opfer aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeschlossen, z.B. auch Homosexuelle, Behinderte, sogenannte „Arbeitsscheue“, Prostituierte und andere, die als „Unwerte“ kategorisiert wurden. Viele schämten sich für ihren Aufenthalt im KZ Uckermark, hielten es sogar vor engsten Verwandten geheim; eine Organisation fand kaum statt, auch weil sie als „Nicht-politisch- Verfolgte“ aus Überlebendenverbänden ausgeschlossen wurden. Im Fall der „Jugendschutzlager“ ergibt sich die zusätzliche Härte, dass sie erst 1970 als Konzentrationslager anerkannt wurden. Das Lager Uckermark wurde zuvor als Fürsorgeheim gesehen, die vielfältigen Anbindungen an das FKL Ravensbrück, der Einsatz von SS-Kräften und ähnliches galten in den Prozessen als sekundär. Keine der Verantwortlichen wurde nach 1945 bestraft, Lotte Toberentz (Leiterin) und Johanna Braach (Stellvertreterin) wurden zwar wegen Misshandlungen angeklagt, aber aufgrund mangelnder Beweise nicht verurteilt. Im Gegenteil, alle Aufseherinnen konnten bruchlos ihre Berufe wiederaufnehmen und als z.B. Kriminalbeamtinnen und Sozialarbeiterinnen arbeiten. Die Aufseherinnen, die im Mädchen- KZ den Frühsport abhielten, wurden danach oft als Turnlehrerinnen beschäftigt. Entschädigungen für die ehemaligen Inhaftierten wurden kaum gezahlt. Nach Anerkennung von Moringen und Uckermark als KZs gab es eine halbjährliche Frist, in denen sie Anträge auf „Wiedergutmachung“ stellen konnten. Die Betroffenen erfuhren davon nichts oder viel zu spät, da diese Maßnahme nur im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde. Seit den ‘80er Jahren gibt es in zwar in einigen Bundesländern Härtefonds, um aber die meist geringfügigen Zahlungen zu erhalten, müssen die Opfer langwierige, komplizierte und oft demütigende Prozesse führen.
Literaturliste:
(Hg.) Füllberg-Stolberg, Claus u.a.: Frauen in Konzentrationslagern. Bergen Belsen,
Ravensbrück. Bremen 1994.
(Hg.) Limbächer, Katja; Merten, Maike; Pfefferle, Bettina: Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart. Münster 2000.
Klarenbach, Viola; Höfinghoff, Sandra: „Wir durften ja nicht sprechen. Sobald man Kontakt suchte mit irgendjemandem, hagelte es Strafen.“. Das ehemalige Konzentrationslager für Mädchen und junge Frauen und spätere Vernichtungslager Uckermark. Berlin 1998.
Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995.
Fußnoten:
(1) Frauen in Konzentrationslagern, S.300
(2) zit. nach „Wir durften ja nicht sprechen“, S. 12
(3) Ayaß, „Asoziale“, S.180
(4) L.Toberentz, zit. nach das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, S.26 (5) Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark S.27
(6) R. Ritter, zit nach Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, S.26
(7) zit. nach Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, S. 210